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EuGH zu Annullierung wegen technischer Defekte


Gerichtshof der Europäischen Union

PRESSEMITTEILUNG Nr. 105/15

Luxemburg, den 17. September 2015

Urteil in der Rechtssache C-257/14 Presse und Information Corina van der Lans / Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV

Luftfahrtunternehmen müssen Fluggästen auch bei Annullierung eines Fluges wegen unerwarteter technischer Probleme Ausgleich leisten

Jedoch können bestimmte technische Probleme, die u. a. aus versteckten Fabrikationsfehlern, die die Flugsicherheit beeinträchtigen, aus Sabotageakten oder aus terroristischen Handlungen resultieren, die Luftfahrtunternehmen von ihrer Ausgleichspflicht befreien

 

Im Fall der Annullierung eines Fluges ist das Luftfahrtunternehmen nach dem Unionsrecht1 verpflichtet, den betroffenen Fluggästen Betreuungs- und Ausgleichsleistungen (je nach Entfernung zwischen 250 und 600 Euro) zu erbringen. Es ist allerdings dann nicht zu einer solchen Ausgleichszahlung verpflichtet, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. 

Frau van der Lans hatte ein Flugticket für einen von KLM durchgeführten Flug von Quito (Ecuador) nach Amsterdam (Niederlande) gebucht. Das Flugzeug landete in Amsterdam mit einer Verspätung von 29 Stunden. Nach Angaben von KLM war die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände, nämlich eine Kombination von Mängeln zurückzuführen: Zwei Teile, die Kraftstoffpumpe und die hydromechanische Einheit, seien defekt gewesen. Diese Teile, die nicht verfügbar gewesen seien, hätten per Flugzeug aus Amsterdam geliefert werden müssen, um sodann in das betreffende Flugzeug eingebaut zu werden. KLM wies ferner darauf hin, dass bei den defekten Teilen die durchschnittliche Lebensdauer nicht überschritten gewesen sei. Auch habe deren Hersteller keinen spezifischen Hinweis gegeben, der darauf hindeutete, dass bei diesen Teilen ab einem bestimmten Alter Mängel auftreten könnten. 

Frau van der Lans erhob Klage bei der Rechtbank Amsterdam, die dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Sie möchte wissen, ob ein technisches Problem, das unerwartet auftrat, das nicht auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen und auch nicht während einer regulären Wartung festgestellt worden ist, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fällt und somit das Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichspflicht befreit. 

In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass aus seiner Rechtsprechung hervorgeht, dass technische Probleme tatsächlich zu den außergewöhnlichen Umständen zählen können. Die Umstände im Zusammenhang mit dem Auftreten dieser Probleme können jedoch nur dann als „außergewöhnlich“ eingestuft werden, wenn sie ein Vorkommnis betreffen, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist und aufgrund seiner Natur oder Ursache von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist.2 So verhält es sich nach Auffassung des Gerichtshofs u. a. dann, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde entdeckte, dass diese bereits in Betrieb genommenen Maschinen einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt. Gleiches gelte auch bei durch Sabotageakte oder terroristische Handlungen verursachten Schäden an den Flugzeugen. 

Da jedoch der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme mit sich bringt, sehen sich Luftfahrtunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüber. Im Hinblick hierauf können technische Probleme, die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen oder infolge einer unterbliebenen Wartung auftreten, als solche keine „außergewöhnlichen Umstände“ darstellen. 

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Ausfall, der durch das vorzeitige Auftreten von Mängeln an bestimmten Teilen eines Flugzeugs hervorgerufen wurde, zwar ein unerwartetes Vorkommnis darstellt. Dennoch bleibt ein solcher Ausfall untrennbar mit dem sehr komplexen System zum Betrieb des Flugzeugs verbunden, das vom Luftfahrtunternehmen oft unter schwierigen oder gar extremen Bedingungen, insbesondere Wetterbedingungen, betrieben wird, wobei kein Teil eines Flugzeugs eine unbegrenzte Lebensdauer hat. 

Daher ist dieses unerwartete Vorkommnis im Rahmen der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit, und das Luftfahrtunternehmen sieht sich dieser Art von unvorhergesehenen technischen Problemen gewöhnlich gegenüber. Im Übrigen ist die Vorbeugung eines solchen Ausfalls oder der dadurch hervorgerufenen Reparatur, einschließlich des Austauschs eines vorzeitig defekten Teils, vom betroffenen Luftfahrtunternehmen zu beherrschen, da es seine Aufgabe ist, die Wartung und den reibungslosen Betrieb der Flugzeuge, die es zum Zweck seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten betreibt, sicherzustellen. 

Folglich kann ein technisches Problem wie das in Rede stehende nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen. 

In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof ferner darauf hin, dass die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen unbeschadet des Rechts des Luftfahrtunternehmens zu erfüllen sind, bei anderen Schadensverursachern, wie insbesondere dem Hersteller bestimmter defekter Teile, Regress zu nehmen. 

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.